„F*ck positive vibes only“ – das ist das Motto der Blogparade von Anette Schade.
Eine optimistische Grundeinstellung ist wichtig. Wir sollten positiv denken, uns nicht unterkriegen lassen. Aber wenn wir alle anderen Gefühle unterdrücken, wie gut ist das wirklich für uns?
Hin und wieder sollten wir uns ehrlich selbst die Frage stellen: „Wie geht es dir wirklich?“
Als Künstlerin setzte ich mich immer wieder mit den tieferliegenden Schichten auseinander. Unlängst hörte ich den Ausspruch: „Wie viel er sich auch sonst im Leben gefallen lässt, in seiner Kunst muss ein Künstler aufrichtig sein.“ Das ist wahr! In der Kunst ergründen wir, wir verdecken nicht. Wahrhaftigkeit, das kann durchaus Arbeit sein … emotionale Arbeit … Erinnerungsarbeit … künstlerische Arbeit.
Ein Blick zurück
Ich hatte keine „schlimme Kindheit“. Wir waren sauber, genährt, gekleidet usw. Ab und zu wurden wir geschlagen. Aber in den 70er Jahren war die Prügelstrafe in Westdeutschland noch in vielen Familien gang und gäbe. Nicht einmal, dass meine Mutter bevorzugt Kleiderbügel benutzte, war etwas Besonderes. Neulich noch las ich, dass viele Eltern Teppichklopfer oder ähnliches verwendeten, um ihre Kinder zu züchtigen.
Meine Kindheit war also nicht anders als viele andere auch. Die Demütigung und das Ausgesetztsein war schlimmer als die Schmerzen. Was mein Leben aber wirklich prägte, war die Lieblosigkeit.
Meine Mutter war generell keine liebevolle Frau. Aber es war nicht so, dass sie gar keine Liebe in sich hatte. Sie hatte nur keine für mich. Das ist keine Übertreibung. Ich war ein Sandwichkind – eine ältere Schwester, eine jüngere. Ich rutschte so durch. Gegenüber meinen beiden Schwestern, die ihr charakterlich sehr nahestanden, war meine Mutter durchaus liebevoll.
Kuscheln mit Mama? Keine Chance, ich kann mich nicht an eine (!) auch noch so flüchtige Umarmung erinnern. Da das nur bei mir so war, war ich überzeugt davon, dass es an mir liegen müsse.
Eine Erinnerung aus meiner Kindheit ist besonders ausgeprägt. Ich war vielleicht 5 oder 6 Jahre alt und wir waren im Winter zu Besuch bei Verwandten in Süddeutschland. Der Schnee lag sehr hoch und es war wunderschön. Wenn wir draußen im Schnee gespielt hatten, mussten wir zuerst in den Keller, um dort Schneestiefel und Schneeanzüge auszuziehen. Meiner war feuerrot, ich erinnere mich gut. Meine Mutter war zusammen mit meinen Schwestern unten im Keller und half ihnen beim Ausziehen, als ich die Treppe hinunterkam. Sie drehte sich kurz zu mir um und sagte dann zu den beiden: „Seht euch eure Schwester an. Davon könnt ihr euch eine Scheibe abschneiden. Sie hält sich am Geländer fest.“
Die Suche
Keine große Sache, oder? Nicht gerade ein übermäßiges Lob. Aber für mich war das eine völlig neue Erfahrung und so eindrucksvoll, dass ich es nie vergessen habe. Ich war wie elektrisiert und den Rest des Urlaubs verbrachte ich damit, die Kellertreppe rauf und runter zu gehen, mich immer schön am Handlauf festhaltend – in der Hoffnung, meine Mutter würde mich noch einmal loben. Vielleicht hatte sie mich ja doch lieb?
Müßig zu sagen, dass es nicht passierte. Aber diese Erinnerung ist Sinnbild für einen sehr großen Teil meines Lebens. Ich rebellierte nie. Selbst in meiner Teenagerzeit war ich immer unauffällig und angepasst: Ich hoffte darauf, ich würde die Liebe meiner Mutter doch noch verdienen. Erst als ich selbst Mutter wurde, schaffte ich es, mich aus dieser emotionalen Zwangslage befreien.
Das unbewusste und doch immer präsente Wissen: „Meine Mutter konnte mich nicht lieben, wie könnte mich irgendjemand lieben?“ beeinflusste meinen Selbstwert, jede Lebensentscheidung und jede Beziehung zu anderen Menschen. Als meine Mutter anfing zwischen meinen Söhnen und den Kindern meiner Schwestern die gleichen Unterscheidungen zu machen und sie ebenso lieblos zu behandeln wie mich, war ich endlich stark genug.
Meine Familie wirft mir vor, den Kontakt zu ihr abgebrochen zu haben. Aber wenn der Kontakt abbricht, wenn eine Person sich nicht mehr meldet, hat diese den Kontakt dann abgebrochen oder hat sie ihn bis dahin aufrechterhalten? Ich hätte mich so gefreut, wenn das Interesse meiner Familie groß genug gewesen wäre, sich bei mir zu melden. Aber irgendwann habe ich einfach akzeptiert, was nicht zu ändern war.
Nachdem ich aufgehört hatte, die Liebe meiner Mutter herbeizuwünschen, konnte ich endlich wahrnehmen, dass es Menschen gab, die mich mochten, ja sogar liebten. Mein Lebensgefährte und meine Söhne haben mich das gelehrt.
Heute geht es mir meistens gut. Aber diese fehlende Liebe in meiner Kindheit wird immer ein Teil von mir sein. Wie Risse unter der Oberfläche und manchmal brechen sie durch.
Cracked
Wir alle haben Brüche in unserem Leben. Menschen, die uns verletzten, Erlebnisse, die uns veränderten … Verluste, Schicksalsschläge, kleine alltägliche Tortouren.
"Finding my path"
Zurzeit arbeite ich an einer neuen Kunstserie, die sich genau mit diesem Thema beschäftigt. Sie trägt den Titel „Cracked“.
Erfahrungen, wie ich sie gemacht habe – ähnlich oder auch gänzlich anders – haben wahrscheinlich die meisten, vielleicht sogar alle Menschen gemacht. Diese kleinen und großen Narben tragen wir wohl alle mit uns.
Sie sind keine Schande. Gemachte Erfahrungen bleiben nicht in der Vergangenheit. Sie haben Auswirkung darauf, wie wir Beziehungen führen, auf unsere Gefühle, auf unser Urvertrauen, darauf, wie wir uns verhalten. Ob negativ oder positiv, sie haben Einfluss darauf, wer wir sind. Aber viel mehr noch hat, wer wir sind, Einfluss darauf, wie wir Erfahrungen einordnen und verarbeiten.
Wir dürfen wichtig nehmen, wie es uns geht, wir müssen nichts relativieren, wir dürfen darüber reden – oder schweigen.
Die hinterlassenen Spuren - ob nun feine Risse oder tiefe Krater – sind keine Beschädigungen. Wir stehen auf, manchmal aus Trümmern, formen uns selbst neu. Zu Straucheln ist keine Schwäche, Verletzungen kein Zeichen des Versagens. Die Narben sind Zeichen des (Über)Lebens, des Trotzens. Sie sind die Linien, an denen wir uns selbst wieder zusammenfügten. Es liegt Schönheit auch im Gebrochenen!
„Cracked“ ist meine bisher persönlichste Kunstserie. In ihr verarbeite ich meine Kindheit.
Unsere Risse sind Nahtstellen, Raum für Entwicklung.
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