Heute geht es weiter mit meiner Blogserie Kunst kurz erklärt.
Worum geht es? In Ausstellungstexten, Bildbeschreibungen, Büchern aber auch in meinen eigenen Artikeln tauchen immer mal wieder Fachbegriffe auf, wie Sfumato, Pentimento oder Grisaille. Diese Begriffe stammen oft aus dem Italienischen oder Französischen, weil das lange die Sprachen der Kunst waren und zum Teil auch heute noch sind.

Ich habe mir zum Ziel gesetzt, diese Begriffe nach und nach zu erklären. Kunst muss für alle zugänglich sein. Das beginnt schon bei der Sprache. Aber es hilft mir auch, mein Wissen zu ordnen, es mir selbst zugänglich zu machen, indem ich nicht einfach vage einen Fachbegriff verwende, sondern ausformuliere, was genau ich meine. Diesmal geht es um das Trompe-l’Œil.

Was ist ein Trompe-l’Œil?

Der Begriff Trompe-l’Œil bedeutet wörtlich „täusche das Auge“. Und genau das ist es auch. Ein Gemälde, das ganz gezielt so gemalt ist, um das Auge zu täuschen. Das Dargestellte soll wirken wie ein echter, physischer Gegenstand und nicht wie ein Bild. Dabei geht es nicht darum, realistisch zu malen, jedenfalls nicht nur. Es geht um die optische Täuschung. Das Auge soll im ersten Moment glauben, dass es wirkliche Briefe auf einem Holzbrett (wie im Titelbild (Office Board von John F Peto)), oder einen Rahmen, ein Vorhängeschloss, eine Nische sieht.

Damit das funktioniert, arbeiten Künstler*innen im Trompe-l’Œil extrem präzise mit Licht und Schatten, mit der Illusion von Materialoberflächen (Holzmaserung, Papierkanten, Stofffalten, Metallglanz) und mit sehr klarer Räumlichkeit. Typisch ist, dass Dinge so gemalt werden, als lägen sie auf der Bildfläche oder ragten aus ihr heraus. Ein Brief, der mit einem Nagel befestigt ist, ein Zettel, dessen Ecke scheinbar umgeknickt ist. Oft wirkt es so, als sei das Bild selbst ein Alltagsobjekt – ein Notizbrett, die Rückseite eines Gemäldes, eine Schublade, ein Fenster.

Ein Trompe-l’Œil ist die bewusste Inszenierung der Grenze zwischen Bild und Wirklichkeit. Das Bild tut so, als wäre es kein Bild.

Die Hochzeit des Trompe-l’Œil

Die Idee, ein Bild so zu malen, dass es für echt gehalten wird, ist beinahe so alt wie die westliche Kunst selbst.

Die frühesten Beispiele finden sich in der römischen Wandmalerei. In Pompeji und Herculaneum wurden Wände gestaltet, die vorgaben, Fenster, vorstehende Marmorplatten oder architektonische Nischen zu zeigen, wo in Wirklichkeit nur Putz war. Diese Illusionsräume waren erstaunlich ausgefeilt, und die Künstler spielten bewusst mit der Wahrnehmung.

In der antiken Kunstliteratur gibt es eine berühmte Anekdote, die Plinius dem Älteren zugeschrieben wird.
Zeuxis und Parrhasios  zwei berühmte griechische Maler, traten in einem Wettstreit gegeneinander an. Sie wollten beweisen, wer von beiden der bessere Illusionist sei. Zeuxis malte Trauben, die so überzeugend wirkten, dass Vögel angeflogen kamen, um sie zu picken. Er war sich seines Sieges sicher und forderte Parrhasios auf, sein Werk endlich zu enthüllen. Parrhasios bat Zeuxis, den Vorhang zur Seite zu ziehen, wobei sich herausstellte, dass der Vorhang gemalt war. Zeuxis soll daraufhin gesagt haben, dass er zwar die Natur getäuscht habe, Parrhasios aber einen Künstler.

Seither haben viele Künstler Bezug auf diese Geschichte genommen. Es gibt unzählige Kunstwerke, in denen sich hinter einem zurückgeschlagenen Vorhang ein neuer Raum öffnet.

Johannes Vermeer, Der Liebesbrief, Rijksmuseum, Amsterdam

Doch seine Blütezeit erlebte das Trompe-l’Œil im Barock. In dieser Zeit war die Kunst darauf ausgerichtet, zu beeindrucken und zu überwältigen. Illusion, Schein und Wirklichkeit spielten eine zentrale Rolle, nicht nur in der Malerei, sondern auch in Architektur und Theater. In Kirchen wurden Decken so gemalt, dass sie sich scheinbar nach oben öffneten, Figuren schwebten und ganze Räume optisch größer wirkten. 

Am stärksten war Trompe-l’Œil aber nicht im italienischen Barock, sondern in den nördlichen Niederlanden. Dort trafen zwei Dinge aufeinander: eine große Wertschätzung detailreicher Stillleben und eine protestantische Kultur, in der religiöse Bilder seltener geworden waren. Künstler konzentrierten sich stärker auf Alltagsgegenstände, Materialien und Präzision – ideale Voraussetzungen für illusionistische Effekte.

Warum ausgerechnet Französisch?

Die Idee stammt mehr oder weniger aus Griechenland und dem römischen Reich, Hochzeit lag in den Niederlanden, aber der Begriff ist französisch? Warum eigentlich?

Geprägt wurde er im 17. Jahrhundert. In dieser Zeit hatte Italien seine Macht längst eingebüßt. Die globalen Handelsrouten hatten sich verlagert. Der atlantische Handel (Spanien, Portugal, später Niederlande und England) wurde wichtiger als der Mittelmeerhandel. Dadurch verlor Venedig stark an Bedeutung. Die Machtverhältnisse in Europa verschoben sich. Frankreich, Spanien und später auch das Habsburgerreich wurden zu zentralisierten Großmächten. Italien dagegen blieb ein zersplittertes Mosaik aus Stadtstaaten, Fürstentümern und Republiken. Es konnte sich nicht gegen äußere Eingriffe behaupten. Die italienischen Kriege (ab 1494) waren verheerend. 

Zwar reisten noch immer Künstler nach Italien, um von den alten Meistern zu lernen, aber Kunst folgt der Macht, weil große Aufträge, Prestigeprojekte und Ressourcen dorthin wandern, wo die politischen Zentren sind. 
In der Praxis, also in der Malerei und Skulptur selbst, war Italien bis weit ins 17. Jahrhundert hinein führend. Doch die sprachliche und theoretische Deutungshoheit verschob sich langsam nach Frankreich. 

Und so stammt die Benennung aus dem Umfeld der Académie royale de peinture et de sculpture in Paris, wo Kunstkritik, Theorie und Terminologie damals europaweit tonangebend waren.
Frankreich war zu dieser Zeit das kulturelle Zentrum, das Begriffe systematisch festhielt und verbreitete. Kunstschriftsteller und Theoretiker beschrieben solche illusionistischen Effekte mit dem Ausdruck trompe-l’Œil, und weil dieser Begriff extrem präzise war und die Täuschungsabsicht klar formulierte, wurde er von anderen Ländern übernommen.

Cornelis Gijsbrechts, Rückseite eines gerahmten Gemäldes

19. Jahrhundert: USA

Im 19. Jahrhundert erlebte Trompe-l’Œil in den USA eine zweite Blüte. Ab den 1870er-Jahren entwickelte sich eine Gruppe von Malern, die sich mit großer Präzision auf illusionistische Stillleben spezialisierte. Die bekanntesten Namen sind William Michael Harnett, John F. Peto und John Haberle. Sie nahmen das Trompe-l’Œil-Prinzip der niederländischen Barockmalerei auf, aber sie übersetzten es in eine andere Bildwelt: keine barocken Vorhangtricks, sondern Objekte aus dem amerikanischen Alltag. Dazu gehörten Stecktafeln, Instrumente, Zeitungen, Quittungen, Bücher, Tabakdosen oder Werkstattutensilien. Dinge, die aus dem täglichen Leben stammten.

Es gab eine wachsende Mittelschicht, die Interesse an technisch beeindruckenden, aber nicht symbolisch überfrachteten Bildern hatte. Trompe-l’Œil passte gut in diese Kultur, weil es Fähigkeiten zeigte und eine gewisse Verspieltheit hatte, ohne gegen moralische Erwartungen zu verstoßen. Gleichzeitig blieb es „sauber“ und handwerklich klar, was vielen amerikanischen Sammler*innen gefiel.

Der Kritik entkommen

Wenn ich schon über Trompe-l’Œil schreibe, darf natürlich eines der bekanntesten Werke nicht fehlen.„Escaping Criticism“ (1874) von Pere Borrell del Caso nutzt einen Effekt, der sofort funktioniert – auch bei Menschen, die sonst kaum Kunst anschauen. Der Junge, der scheinbar über den Rahmen steigt, erzeugt einen sehr direkten, fast theatralischen Moment der Täuschung. Das macht es extrem einprägsam. 

Kunsthistorisch gehören zwar die niederländischen Barockwerke zum „klassischen Kanon“, aber dieses spanische Bild ist eines der Werke, die das Genre für ein breites Publikum definieren, auch wenn es zu seiner Entstehungszeit gar nicht so berühmt war.

Der Rahmen ist Teil der Bildwirkung: Der Übergang zwischen „Bildraum“ und „realer Raum“ wird inszeniert. Der Blick des Jungen wirkt nach außen gerichtet, so als wolle er sich in die Welt außerhalb des Bildes bewegen. Über die genaue Absicht des Künstlers wird wenig gesichert berichtet. Manche Kunsthistoriker vermuten, dass das Werk eine Art Kritik an konservativer Kunstkritik sein könnte. Der Titel legt diesen Schluss natürlich nahe.

Pere Borrell del Caso. Flucht vor der Kritik

Von der Leinwand in die Stadt

In Museen und Galerien findet man heute eher selten moderne Trompe-l’Œil im historischen Sinn, dafür aber viele Arbeiten, die das Prinzip weiterdenken, das Spiel mit Realität, Oberfläche und Wahrnehmung.

Trompe-l’Œil ist im öffentlichen Raum besonders stark, weil es mit Architektur und Stadtbild spielt. Häuser bekommen scheinbare Balkone, Fenster, durchbrochene Wände oder ganze Fassaden, die sich „öffnen“. Diese Mural-Kunst ist oft großflächig, technisch sehr sauber und nutzt die Wirkung aus, dass man den gemalten Raum in die reale Stadt hinein verlängert. In vielen Städten ist das ein bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel, um trostlose oder geschlossene Fassaden optisch zu beleben oder historische Bezüge herzustellen. Gerade in Frankreich, Spanien, Deutschland, Kanada und den USA ist das weit verbreitet.

Aber die Gegenwartskunst kennt darüber hinaus auch andere Formen von Trompe-l’Œil. In der Street Art arbeiten Künstler*innen wie Julian Beever oder Edgar Müller mit Kreidezeichnungen, die nur aus einem bestimmten Blickwinkel räumlich wirken. Das sind im Grunde moderne Anamorphosen, eine verwandte Illusionsform. Andere Künstler übertragen das Prinzip auf Objekte. Sie bemalen Alltagsgegenstände so, dass sie wie etwas anderes erscheinen, oder sie schaffen Skulpturen, die wie zweidimensionale Zeichnungen aussehen.

Daneben gibt es auch einen experimentelleren Umgang in der zeitgenössischen Kunst, etwa wenn Künstler*innen hyperrealistische Stillleben malen, die bewusst an barocke Trompe-l’Œil-Motive erinnern, sie aber mit heutigen Objekten füllen – Verpackungen, Zeitungsseiten, digitale Geräte. Die Malerei greift das alte Prinzip auf, spielt aber mit der Sehgewohnheit der Gegenwart.

Trompe-l’Œil hat sich von einer klar definierten Gattung zu einem offenen Konzept entwickelt, das überall dort auftaucht, wo es um den Reiz der Täuschung geht. Die Fassadenmalerei ist nur die sichtbarste Form davon.

About the Author Lea Finke

Lea Finke ist Künstlerin mit ganzer Seele. In ihrem Blog erzählt sie von Inspiration, Leidenschaft und der Begegnung mit Kunst.

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