Joan Mitchells Werk ist wild und raumgreifend. Ihre Farben schreien; sie wirbeln, sie fließen über die Leinwand. In ihren Bildern liegt eine Kraft, die nicht nett ist. Kein Dekorum, kein Kompromiss.
Nur Farbe, Fläche. Dringlichkeit.
Sie war keine stilistische Revolutionärin. Das Vokabular des Abstrakten Expressionismus erfand Joan Mitchell nicht neu, aber sie eignete es sich an, auf sehr persönliche, emotionale und oft körperlich erfahrbare Weise. Ihre Bilder wurden zu Räumen innerer Wahrnehmung. Die Natur war nie bloß Vorlage, sondern Impuls: Sie malte nicht Landschaften, sondern das Gefühl, sich innerhalb dieser zu bewegen. Sie selbst nannte es „erinnerte Landschaften“.
Frauen hatten es in allen Zeiten schwer im Kunstbetrieb. Sie wurden belächelt, marginalisiert und nach ihrem Tod wurden ihre Verdienste oft männlichen Kollegen zugeschrieben. Doch in der abstrakten Kunst war die Unsichtbarmachung weiblicher Künstlerinnen systematisch.
Der Abstrakte Expressionismus der USA in den 1940er–60er Jahren war mit einer machohaften Künstlerfigur regelrecht aufgeladen: großformatige Malerei, körperlich, impulsiv – das galt als Ausdruck von Kraft und Authentizität - und damit als männlich, obwohl auch Künstlerinnen mit Wucht und Geste arbeiteten.
Frauen wie Grace Hartigan, Elaine de Kooning oder Helen Frankenthaler waren oft nur sichtbar, wenn sie in Beziehung zu berühmten Männern standen: als Ehefrau, Muse, Schülerin oder Geliebte. Selbst Lee Krasner, eine hochinteressante Künstlerin, blieb zu Lebzeiten oft „die Frau von“ - in ihrem Fall Jackson Pollock.
Joan Mitchell war eine der wenigen Frauen, die sich im männlich dominierten Feld des Abstrakten Expressionismus behaupten konnten. Und sie tat es nicht leise! Ihre Werke wurden immer größer, ihre Farben mutiger, ihr Ausdruck kompromissloser. Und doch blieb sie lange im Schatten männlicher Kollegen.

Joan Mitchell, Plowed Field, 1971
Nur kein Lable
Dabei war Joan Mitchell nie besonders interessiert daran, als weibliche Künstlerin wahrgenommen zu werden. Sie soll sogar mal gesagt haben: „Ich bin keine Frau, ich bin Maler“. Aus heutiger Sicht vielleicht ein bisschen irritierend. Doch was wie eine Abwehr feministischer Zuschreibungen wirkt, war in Wahrheit der Versuch, sich dem Etikettendenken der damaligen Kunstwelt zu entziehen.
Sie wollte sich nicht auf ihr Frausein reduzieren lassen, nicht als Ausnahme gelten oder Sonderfall – sondern als ernsthafter Künstler. Punkt. Dass sie sich dennoch in einem von Männern dominierten Feld durchsetzen musste, war ihr bewusst.
Ihre Malweise wurde von Kritikern oft als „maskulin“ beschrieben. Gemeint war das als Kompliment. Als ob nur „männliche Energie“ physische Wucht hervorbringen könnte. Kraft galt als männlich, Emotion als weiblich – und beides zusammen? Das war so nicht vorgesehen.
Mitchell durchbrach dieses Schema mit jedem Pinselstrich.
Ein Leben zwischen Poesie und Pinsel
Ihr Vater, ein renommierter Arzt und Hobby-Maler, hatte sich einen Sohn gewünscht – und seine Enttäuschung ließ er an seiner Tochter aus. Mitchell soll sogar auf ihrer Geburtsurkunde zunächst „John“ genannt worden sein. Heute würde man das als einen Versuch bewerten, binäre Geschlechterstrukturen zu durchbrechen. Aber damals war die Botschaft klar: Du wirst meine Erwartungen nie erfüllen.
Charles Mitchell galt als eher kühl, leistungsorientiert, er erwartete Ergebnisse, Disziplin, Ernst. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter blieb zeitlebens distanziert. Er war Kunstmäzen, förderte die Kunst aber eher, weil es zu seiner gesellschaftlichen Position gehörte, nicht unbedingt aus Leidenschaft.
Ihre Mutter, Marion Strobel, war eine publizierte Dichterin, Redakteurin des Poetry Magazine und eine enge Freundin von T. S. Eliot und Ezra Pound. Sie ermutigte Joan zur Kreativität, allerdings nicht frei von Erwartungen. In Joan Mitchells bürgerlich-akademischem Elternhaus der 1920er/30er Jahre in Chicago war Kreativität vermutlich eher Teil eines kulturellen Bildungsideals. Kein authentischer Selbstausdruck, vielmehr ein Zeichen von sozialem Stand, Geschmack und Distinktion.
Druck und Disziplin
Joan wuchs also in einem Umfeld auf, das Literatur und Kunst kannte und auch von hohen Ansprüchen geprägt war. Sie begann früh zu zeichnen, liebte Gedichte und brillierte als Jugendliche auch im Sport – sie war eine talentierte Eiskunstläuferin und gewann als Teenager mehrere Preise im Springreiten. Doch im Mittelpunkt stand immer: Leistung.
Mit 19 begann sie ihr Kunststudium. Eine klassische Ausbildung, die sie sowohl mit figürlicher Malerei als auch mit moderner Theorie in Kontakt brachte. Nachdem sie ihren BFA und MFA am Art Institute in Chicago abgeschlossen hatte, ging sie nach New York und studierte an der Columbia University Kunstgeschichte. Zusätzlich belegte sie an der New York University Französisch.

Joan Mitchell, Bonjour Julie, 1971
Eigene Stimme
In dieser Zeit begann sie, sich zunehmend vom Gegenständlichen zu lösen. Besonders Künstler wie Cézanne, van Gogh und Matisse prägten ihre Sicht auf Malerei. Bei ihnen fand sie, was sie selbst suchte: Komposition als Ausdruck, Farbe als Gefühl, Landschaft als Erinnerung.
Schon in den 1950er-Jahren war New York ein Zentrum des künstlerischen Aufbruchs, aber zugleich auch ein Haifischbecken. Mitchell behauptete sich mit rauem Witz, selbstbewusstem Auftreten, und einer Malerei, die weder zahm noch zögerlich war. Sie war Teil des legendären Cedar Bar-Kreises, trank mit de Kooning, diskutierte mit Franz Kline und wurde bald in dieselben Galerien eingeladen wie ihre männlichen Kollegen.
1955 hatte sie ihre erste Einzelausstellung in der New Yorker Stable Gallery. Ihre Arbeiten wurden schnell international beachtet. Doch New York war auch ein Ort des Lärms, der Konkurrenz, des Übermaßes. Vielleicht reiste Joan Mitchell deshalb regelmäßig zwischen New York und Paris.
Paris und Riopelle
Im Sommer 1955 traf sie bei einer Party dort auf den kanadischen Maler Jean-Paul Riopelle. Eine stürmische, kreativ-intensive und oft turbulent Beziehung begann. Ende 1959 zogen beide in ein gemeinsames Atelierwohnhaus in der Rue Frémicourt im 15. Arrondissement. Ein offener Raum, ideal für das Arbeiten an großformatigen Gemälden. Dort lebten, arbeiteten und diskutierten sie.
Ihre Werke beeinflussten einander, aber ihre Beziehung war auch geprägt von Kämpfen, Alkohol, Eifersucht und Seitensprüngen. 1978 beendete Riopelles Affäre mit Mitchells Assistentin Hollis Jeffcoat ihre mehr als 20 gemeinsamen Jahre. Die Trennung verarbeitet Joan Mitchell in ihrem Werk La vie en rose.
Vétheuil: Rückzug in die Weite
1968 hatte sie ein Anwesen in Vétheuil gekauft, etwa 70 Kilometer nordwestlich von Paris, nicht weit von dem Haus entfernt, in dem Claude Monet einige Jahre gelebt hatte, bevor er nach Giverny zog. Sie lebte dort mit ihren Hunden, ihren Farben und ihren Leinwänden.
Mitchells Anwesen lag auf einer Anhöhe über dem Ort, mit einem weiten Blick auf die Seine. Die französische Landschaft wurde zum emotionalen Hintergrund ihrer Bilder.

Joan Mitchell, Sunflowers, 1990
„Sonnenblumen empfinde ich sehr intensiv. Sie sehen so wunderbar aus, wenn sie jung sind – und sie berühren mich zutiefst, wenn sie sterben. Sonnenblumenfelder mag ich nicht. Ich mag sie einzeln. Oder natürlich, wenn Van Gogh sie gemalt hat.“
- Joan Mitchell
Die Sprache der Farbe: Emotion, Erinnerung, Landschaft
Umgeben von Bäumen, Wasser und weitem Himmel, fand Joan Mitchell jene Freiheit, die sie in New York nie ganz erreichen konnte. In Vétheuil wurde ihre Kunst größer, komplexer, zugleich entschlossener und fragiler.
Das Gegenständliche verschwand nicht, es wurde nur umgewandelt: in Rhythmus, Farbe, Fläche. Mitchell war keine rein abstrakte Malerin im klassischen Sinne. Ihre Werke blieben oft verankert in realen Erlebnissen, aber ohne sie abzubilden. „Meine Bilder bekommen ihre Titel erst, wenn sie fertig sind“, sagte sie. „Ich male nach erinnerten Landschaften, die ich mit mir trage – und nach den erinnerten Gefühlen dazu.“
Und so sind ihre Werke manchmal durchzogen von Licht, manchmal durchtränkt von Schmerz.
Farbe war für sie ein Mittel, das Unaussprechliche sichtbar zu machen. Sie sprach in Farben, wie andere in Tönen oder Versen. Sie selbst bewunderte Charlie Parker und Miles Davis, aber auch Beethoven. Ihre Pinselstriche wirken oft wie Improvisationen, wie Jazz: voller Energie, wild und rau.
Auch die Literatur spielte eine große Rolle. Mitchell las Proust und T. S. Eliot, immer wieder. Gerade Prousts Idee des „mémoire involontaire“ – des unwillkürlichen Erinnerns – spiegelt sich in ihren Bildern wider. Es geht nicht um ein Motiv, sondern um die Emotionen, die sie hinterlässt. Oder wie sie selbst sagte: „Ich könnte niemals die Natur spiegeln. Ich möchte eher malen, was sie in mir zurücklässt.“
Die Titel ihrer Werke erzählen oft leise mit: La Grande Vallée, No Rain, Ladybug, Sunflowers. Naturtauchen, Erinnerungsfragmente, zarte Beobachtungen. La Grande Vallée etwa – eine monumentale Serie von rund zwanzig Arbeiten – entstand 1983/84. Joan Mitchells enge Freundin Gisèle Barreau hatte 1982 ihren Cousin verloren. Sie erzählte von ihren Erinnerungen an ein verstecktes Tal in der Bretagne, wild und lichtdurchflutet. Ein Ort der Kindheit, des Lebens und des Verlusts. Sie wünschte sich, noch einmal mit ihm zu diesem Ort reisen zu können.
Mitchell war nie in der Bretagne gewesen, aber auch sie hatte einen schweren Verlust erlitten. Ihre Schwester starb ebenfalls 1982. Später sagte Mitchell, sie habe einen imaginären Ort malen wollen, einen Ort, den sie gern besucht hätte. In der Serie fließen grüne, blaue, leuchtend gelbe und erdige Töne ineinander – kraftvoll, stürmisch, verletzlich und voller Sehnsucht. Die gemalten Wiesen und Sträucher sind metaphorisch aufgeladen, berühren das Erinnerte, das Verlorene und das Bleibende.

Joan Mitchell, La Grande Vallée XIV (For a Little While), 1983, Öl auf Leinwand
Risse
Joan Mitchell arbeitete immer mit dem, was da war. Auch wenn es weh tat. Sie instrumentalisierte den Schmerz nicht. Sie verdrängte ihn aber auch nicht, sondern arbeitete mit ihm.
In ihrem Leben gab es viele Abschiede. Der Verlust ihrer Mutter 1966, mit der sie eine komplizierte, aber tief prägende Beziehung verband, und der Tod des Vaters, nur vier Jahre zuvor. Der Bruch mit Jean-Paul, mit dem sie mehr als zwei Jahrzehnte verbunden war. Und schließlich der Krebstod ihrer Schwester, der sie zutiefst erschütterte. Mitchell sprach selten öffentlich über ihre Trauer. Aber ihre Bilder wurden in diesen Jahren dichter, emotional aufgeladener. Mit dichter, rissiger Pinselführung, in fordernder Farbigkeit, in Formen, die nach Halt suchten.
Ihr Alkoholkonsum war bekannt. Freunde, Galerist:innen und Kolleg:innen sprachen davon, und es war Teil ihres öffentlichen Auftretens: laut, direkt, sarkastisch – oft mit einem Glas in der Hand. Ganz die trinkende, schimpfende, exzessive Künstlerin. Ihre Assistentin und spätere Biografin Patricia Albers beschreibt den Alkoholkonsum als Teil von Mitchells Selbstbildes als unangepasste, widerständige Frau.
Doch auch nach durchzechten Nächten arbeitete Joan Mitchell am nächsten Morgen wieder diszipliniert in ihrem Atelier.
Mitte der 1980er-Jahre erhielt sie die Diagnose Krebs. Mitchell unterzog sich Operationen, später Bestrahlungen, verlor zwischenzeitlich die körperliche Kraft. Aber sie hörte nicht auf zu malen. Ihre Bilder blieben weiterhin kraftvoll - nun jedoch oft durchzogen von Weißräumen. Sie zeigten ihre ungebrochene Lust an Weite und Bewegung.
Joan Mitchell starb 1992 in Paris. Ihre letzten Arbeiten wirken, als hätten sie das Gegenteil von Abschied im Sinn: Präsenz. Leben. Farbe.
Vermächtnis
In der Öffentlichkeit galt sie lange als „die, die mit den Jungs trank“, als talentierte Außenseiterin im Kreis der heroischen männlichen Maler. Ihre eigene Stimme wurde erst spät gehört. In den 1980er Jahren nahm die feministische Kunstgeschichte an Fahrt auf und begann, verloren geglaubte oder marginalisierte Künstlerinnen neu zu bewerten. In diesem Kontext wurde Mitchells Werk auch jenseits der rein stilistischen Einordnung betrachtet – als eigenständige künstlerische Position.
Nach ihrem Tod trugen große Retrospektiven wie 2002: Joan Mitchell: The Paintings im Whitney Museum und 2021–2022: Joan Mitchell im San Francisco MoMA (später auch in Baltimore und Paris) wesentlich dazu bei, ihren Einfluss neu zu verorten. Nicht mehr als Randfigur, sondern als zentrales künstlerisches Gegenüber ihrer männlichen Kollegen. Der Kunstmarkt hat längst nachgezogen: Ihre Werke erzielen heute Millionenbeträge.
1993, ein Jahr nach ihrem Tod, wurde die Joan Mitchell Foundation gegründet. Noch kurz vor ihrem Tod in Paris legte sie testamentarisch fest, dass sie nicht nur ihr Werk bewahrt wissen, sondern gezielt lebende Künstler:innen, insbesondere in schwierigen Lebenslagen, unterstützen wollte.
Die Foundation widmet sich dem Aufbau eines umfassenden Werkverzeichnisses und der Archivierung Mitchells Briefe, Skizzenbücher und Korrespondenzen. Die Stiftung setzt sich für Diversität, Sichtbarkeit und gerechte Förderung ein. Sie vergibt Stipendien und Notfallhilfen, speziell für Malerei und Bildhauerei.
Mitchell war selbst nie „pädagogisch“ aktiv – aber sie glaubte an künstlerische Freiheit, Ausdruck und an den Wert von Zeit und Raum zum Arbeiten. Mit seinen Residency-Programmen bietet die Foundation über das Joan Mitchell Center in New Orleans einen Ort für künstlerischen Austausch, Ruhe und Produktion.
Joan Mitchells Einfluss ist weniger stilistisch als atmosphärisch. Ihre Haltung, ihre malerische Unabhängigkeit, ihr Umgang mit Emotion und Farbe inspirierten. Viele zeitgenössische Künstler:innen sehen in Mitchell eine Wegbereiterin.

Joan Mitchell, Sans Niege, 1969
Ungezähmt
Linien, die abbrechen, Flächen, die sich verweigern. Der Sog und die emotionale Spannung von Mitchells Werken ist selbst bei Bildern im Internet spürbar. Das ist allerdings nicht zu vergleichen mit der nahezu körperlichen Erfahrungen einem ihrer monumentalen Werke gegenüberzustehen. Die enorme Größe und Farbgewalt der Werke kann einen buchstäblich überrollen.
Bedauerlicherweise haben wir in Europa nur selten die Gelegenheit dazu. Wenn man nicht das Glück hat, dass gerade eine Retrospektive stattfindet, und das ist selbst zu ihrem hundertjährigen Geburtstag in diesem Jahr nicht der Fall, muss man nach Venedig (Peggy Guggenheim Collection), Paris (Foundation Louis Vuitton oder nach der geplanten Wiedereröffnung 2030 Centre Pompidou) oder seit neustem nach London (Tate modern) reisen.
Vielleicht liegt es daran, dass sie eine Frau war. Vielleicht, weil sie Amerikanerin war. Aber - auch Europa braucht diese gewaltigen Farbräume.
Hast du schon mal eines von Joan Mitchells Bildern live gesehen? Welches und wo?