Kreativ zu sein, belohnt in vielerlei Hinsicht. Was auch immer es ist, was diese Liebe und Hingabe in uns entzündet, irgendwann wagen wir uns aus unserem privaten Garten hervor und tragen es nach außen. Spätestens dann müssen wir uns mit den Kommentaren anderer auseinandersetzen. Manche davon sind nett - andere weniger.
Aber unweigerlich kommt irgendwann jemand, der sagt: „Das könnte ich ja nicht. Dafür habe ich kein Talent“. Gibt es das überhaupt – Talent? Bedeutet es, mit einer Gabe geboren worden zu sein? Oder ist Talent in Wahrheit eine Fertigkeit, die man erlernen kann?
Das ist eine uralte, bis heute nicht entschiedene Frage.
Niemand wird als Meister geboren. Auch nicht die, bei denen alles leicht aussieht.
In seinem Buch Outliers hat Malcolm Gladwell* die sogenannte 10.000-Stunden-Regel bekannt gemacht. Sie besagt, dass man etwa 10.000 Stunden absichtsvolles, systematisches Üben braucht, mit Zielsetzung und Feedback, um in einem Bereich Weltklasse-Niveau zu erreichen – egal ob in der Musik, im Sport, im Schach oder in der Kunst.
Die 10.000-Stunden-Regel geht zurück auf den schwedischen Psychologen K. Anders Ericsson*, der sie bei seinen Studien an der Musikhochschule in Berlin entdeckte. Er fand heraus:
- Weltklasse-Violinist:innen hatten 10.000 Stunden geübt, bevor sie zwanzig waren;
- die immer noch sehr guten, aber nicht exzellenten um die 8.000 Stunden,
- und eher durchschnittliche rund 4.000 Stunden.
Es spricht also einiges dafür, dass Talent und Arbeit, vorsichtig gesprochen, zumindest zusammen hängen - oder schärfer: dass man sich Talent erarbeiten kann.
In anderen Worten: es wird einem nicht geschenkt.
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Was ich unter Talent verstehe
Für mich ist Talent vor allem eines: Liebe zur Sache. Diese Liebe ist es vielleicht, die einem geschenkt wird, oder besser: Die Liebe zur Sache kommt zuerst, da liegt das Talent.
Die Liebe zur Malerei, zum Schreiben, zur Musik, zum Denken, zum Spielen – ganz egal. Sie macht den Unterschied, ob es uns leicht oder schwerfällt, ob wir gewillt sind, Zeit und Energie (und Geld) zu investieren, ob wir verzichten auf etwas, das wir stattdessen tun könnten. Und sie ist es auch, die uns aushalten lässt, dass wir nicht gut sind, Fehler machen, und wieder machen, und dran bleiben, bis wir besser werden.
Manche entdecken ihre Liebe zur Kunst, zur Musik oder zum Schreiben, weil sie Raum dafür haben. Weil jemand sie ermutigt, sie wahrnimmt, an sie glaubt. Weil etwas in ihnen überschäumt und heraus will. Das ist die eine Seite – die Liebe, die aus Fülle wächst.
Aber auch aus Mangel kann eine tiefe Verbundenheit entstehen. Wenn all das fehlt. Wenn ein inneres Drängen da ist, sich auszudrücken, verstanden zu werden, zu ordnen.
Meine Liebe zur Kunst ist aus dem Mangel entstanden. Kunst war meine Rettung. Und sie ist meine Heilung. Sie hilft mir, mich mit der Welt zu verbinden. Und inzwischen entsteht aus ihr Fülle – die selbst wieder Ausdruck in der Kunst findet.
Beide Wege sind gleich wertvoll, sie formen nur unterschiedliche Zugänge.
Was Talent zerstören kann
Doch leider bleibt manches Talent unentdeckt oder wird im Laufe der Zeit sogar zerstört. In Deutschland dominiert historisch die Idee von Disziplin, Leistung und Verlässlichkeit. Kreativität wird eher als Nebensache betrachtet, als Freizeitvergnügen. Die Schulfächer „Kunst“ und „Musik“ sind ok, um den Notenschnitt zu heben. Aber nur Träumer würden das als konkrete Berufswahl betrachten, oder?
Unser Bildungsideal geht auf Wilhelm von Humboldt zurück, es stellte Persönlichkeitsbildung, Autonomie und Allgemeinbildung in den Mittelpunkt – zumindest auf dem Papier. So ganz ließ sich das in der Praxis nie umsetzen, aber spätestens mit der Industrialisierung nahm der Bedarf an funktionalen Arbeitskräften immer weiter zu. Bildung wurde zur Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt standardisiert, normiert und prüfungsorientiert.
Kunst, Musik, Kreativität hatten im Curriculum einen marginalen Stellenwert – bestenfalls als „Ergänzung“, aber nicht als zentrale Bildungsinhalte. Begabung zählte nur, wenn sie „verwertbar“ war, etwa im Sinne von technischem Können oder Disziplin.
Und auch bis heute gilt, Lernen ist Pflichterfüllung, nicht Entfaltung. Trotz aller Bildungsreformen (Ganztag, Inklusion, Digitalisierung) ist das System leistungszentriert, benotungsfokussiert und selektiv geblieben. Kreative Fächer gelten als „weich“, etwas, das man kürzt, wenn Personal fehlt. Ganz zu schweigen von den großen Klassen und den Herausforderungen einer globalisierten und polarisierten Welt, fehlen Lehrer:innen oft Zeit, Mittel oder Ausbildung, um individuelle Talente zu fördern.
Kinder erkunden die Welt mit Neugier. Sie fragen nicht, ob sie gut sind, vergleichen sich nicht mit anderen. Bis der Ernst des Lebens beginnt, wie wir Schule gerne nennen.
Mir scheint, dass Talent etwas ist, das uns tatsächlich geschenkt wird - uns allen. Die eigentliche Herausforderung ist es, es ins Erwachsenenalter zu retten.
Talent schützen und pflegen
Talent braucht Raum. Es braucht Vertrauen, Geduld, Ermutigung. Nicht denken, nicht fragen: „Was bringt dir das?“ Kinder bringen diese Offenheit ganz selbstverständlich mit – sie malen, singen, bauen, erfinden.
Damit daraus etwas wachsen kann, braucht es nicht immer gleich eine frühe Spezialisierung oder ein Förderprogramm, kein Perfektionstraining. Es braucht Erwachsene, die nicht stören.
Die nicht bremsen, sondern begleiten. Die nicht beurteilen, sondern zuhören. Und manchmal einfach mitmachen.
Das gilt auch für uns Erwachsene. So viele von uns durften ihr Talent nie entdecken. Vielleicht ist es kein Wunder, dass so viele Frauen kreativ werden, wenn die Kinder langsam erwachsen werden, wenn sie wieder Zeit für sich selbst haben. Es ist nie zu spät, die 10.000 Stunden Arbeit in das zu investieren, was du liebst. Es ist nie zu spät, das selbstverhindernde Denken zu unterbrechen – „Dafür habe ich kein Talent.“ Was, wenn das gar nicht stimmt? Vielleicht hast du es nur nie ausprobiert. Oder nicht lange genug. Oder nicht mit Liebe.
Zwischen Anfang und Dranbleiben
Also, in die Wiege gelegte Gabe oder erlernte Fähigkeit? Beides!
Denn das Handwerk, das Rüstzeug ist erlernbar, wenn wir in uns das Verlangen spüren, es zu lernen. Und vielleicht ist Talent nicht das, womit wir starten – sondern das, worauf wir hören, wenn wir bei uns selbst sind.
Was liebst du so sehr, dass du bereit bist, darin schlecht zu sein, solange, bis du es kannst?