September 12, 2025

In dieser Woche rinnt mir die Zeit durch die Finger. Mein Kalender ist proppevoll, ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht und doch bekomme nur halb so viel geregelt, wie ich gern hätte. Zum Beispiel hatte ich für diese Woche ein tolles Thema für den Blog im Kopf. Was, verrate ich noch nicht, denn der Artikel wird noch kommen. Er erfordert aber viel Recherche.
Tja, aber heute ist schon Donnerstag, der Artikel soll morgen erscheinen. Also habe ich 3 Möglichkeiten:

  1.  Ich recherchiere eben nicht so genau und der Artikel geht in oberflächlicher Form online – unmöglich.
  2. Ich lasse diese Woche den Artikel ganz ausfallen – ungern.
  3. Es gibt ein neues Thema, das nicht so tief recherchiert werden muss. 

Die Wahl war dann gar nicht so schwer. Und mir kam die Idee zu einer neuen Artikelserie: Kunst kurz erklärt. In meinen Artikeln kommen gezwungenermaßen immer mal wieder Begriffe aus der Kunstgeschichte vor, die nicht immer selbsterklärend sind, wie Chiaroscuro oder Vanitas. 

Und da dachte ich mir, statt immer nur nach außen zu verlinken, könnte ich selbst etwas über diese Begriffe schreiben. Nicht so kurz und trocken, wie ein Glossar, aber auch nicht gleich eine ganze Abhandlung. Eher so ein Mittelweg. Fundiert, mit Zusammenhang und Hintergrund. Dabei kann ich selbst etwas lernen und hoffentlich macht es euch auch Spaß.
Den Anfang macht die Allegorie.

Was ist eine Allegorie?

Das Wort „Allegorie“ kommt aus dem Griechischen: allos bedeutet „anders“, agoreuein heißt „öffentlich sprechen“. Wörtlich genommen etwas „anders Sagen“, auf ungewohnte Weise ausdrücken.

In der Kunst meint es, etwas Abstraktes durch etwas Konkretes darzustellen und es so verständlich und anschaulich zu machen. Im Grunde ist sie eine Art Metapher (auch wenn diese meist ein einzelnes Bild ist, die Allegorie eher eine ausgedehnte Bildsprache), die Begriffen wie Tugend, Tod oder Liebe, Neid oder Hoffnung ein Gesicht gibt. Diese Begriffe werden zu einer handelnden Figur oder einer ganzen Szene.

Eine Allegorie ist ein Stilmittel, mit dem Künstler*innen Ideen eine Gestalt geben, das Unsichtbare sichtbar machen. Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, mit Waage und Schwert, Amor, Gott der Liebe als geflügelter Knabe mit Pfeil und Bogen, Nike wird fast immer geflügelt dargestellt. Sie verkörpert den Sieg, sowohl im Krieg, als auch im Sport. Typische Attribute: ein Lorbeerkranz oder eine Siegespalme, manchmal auch ein Pokal oder eine Trophäe.

Es ist kein Zufall, dass es sich bei diesen Beispielen jeweils um griechische Gottheiten handelt. Sowohl die Griechen als auch die Römer verkörperten abstrakte Ideen wie Treue (Hera/Juno), Weisheit (Athene/Minerva), Krieg (Ares/Mars), oder Unschuld/Reinheit (Artemis/Diana) in Götterfiguren.

Als die Renaissance die Antike wiederentdeckte, griffen Künstler auf dieses Vokabular zurück. Allegorien bekamen also oft antike Gestalten, auch wenn die christliche Welt damals andere Inhalte hatte.
Dieses Muster hat sich über Jahrhunderte gehalten. Selbst in der Aufklärung und bis ins 19. Jahrhundert war es üblich, auf diese vertrauten Bilder zurückzugreifen.

Allegorien beschränken sich nicht auf die Malerei. Auch in der Literatur werden abstrakte Begriffe durch Bilder oder Figuren greifbar gemacht. Ein klassisches Beispiel ist Dantes Göttliche Komödie. Dantes Weg durch Hölle, Fegefeuer und Paradies ist nicht nur eine Reisegeschichte, sondern eine Allegorie des Lebenswegs des Menschen. Vom Irrweg der Sünde über Läuterung bis hin zur Erlösung, natürlich sehr christlich geprägt.
Ebenso wie die Begleitfiguren. Vergil als menschliche Vernunft reicht nur bis ins Fegefeuer, aber ins Paradies führt nur Beatrice als Allegorie der göttlichen Liebe.

Symbol oder Allegorie – Wo liegt der Unterschied?

Eine Allegorie ist als das Bildhaft-Machen einer Idee. Das ist ein Symbol auch. Wo liegt also der Unterschied?
Ein Symbol ist in der Regel ein einzelnes Zeichen, das auf einen abstrakten Gedanken verweist. Eine Taube steht für Frieden, ein Herz für Liebe, ein Schädel für Vergänglichkeit.
Symbole sind oft leicht zu erkennen, weil sie sich über die Jahrhunderte eingeprägt haben und uns fast automatisch etwas sagen.

Eine Allegorie ist umfassender. Eine komplexe Figur mit Attributen oder eine ganze Szene, die vielleicht sogar mehrere Ideen miteinander verbindet.
Man könnte sagen, das Symbol ist das Zeichen, die Allegorie ist die Geschichte, die aus diesem Zeichen entsteht. Schön zu sehen ist das wieder am Beispiel der Justitia. In jeder Darstellung hat sie 3 wichtige Attribute.

  • Die Waage steht für Balance, das Abwägen.
  • Das Schwert symbolisiert Durchsetzungskraft, das Vollstrecken von Urteilen.
  • Die Augenbinde steht für Blindheit und Unparteilichkeit.

Jedes dieser Elemente funktioniert für sich als Symbol. Ein klar erkennbares Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung. In der Figur der Justitia werden diese Symbole zusammengeführt. Sie ist mehr als die Summe ihrer Attribute.
Als ganze Gestalt erzählt sie eine Geschichte. Ohne Ansehen der Person wägt Justitia ab, urteilt und setzt die Strafe durch. So wird aus einzelnen Zeichen Gerechtigkeit als Ganzes sichtbar gemacht.

Drei Allegorien im Bild

Soweit die Theorie, aber jetzt mal Butter bei die Fische. Um das Ganze greifbarer zu machen sind hier drei der berühmtesten Allegorien der Kunstgeschichte.

Sandro Botticelli, Primavera (ca. 1482)

Sandro Botticelli, Primavera, Galleria degli Uffizi, Florenz

Auf den ersten Blick wirkt Botticellis Primavera wie ein üppiger Gartentraum, aber darin verbirgt sich eine vielschichtige Allegorie: der Frühling als Sinnbild von Liebe, Fruchtbarkeit und Neubeginn.

In der Mitte steht Venus, leicht zurückversetzt, als ordnende Figur, die das Geschehen in einen größeren Rahmen stellt. Als Göttin der Liebe gibt sie dem Geschehen einen übergeordneten Sinn. Liebe als verbindendes Prinzip, das alle Kräfte des Frühlings zusammenhält.

Über ihr schwebt Amor, blind, mit gezücktem Pfeil. Er weiß nicht, wen sein Pfeil treffen wird, aber wer immer es sein mag, die Liebe wird ihn oder sie entzünden. Links tanzen die drei Grazien, sie stehen für Anmut, Schönheit und Lebensfreude. Ganz links, am äußersten Rand (hier etwas abgeschnitten) erkennt man Merkur, der mit seinem Stab die Wolken vertreibt, als Hinweis auf die Vertreibung des Winters.

Rechts im Bild stürmt der Windgott Zephyr heran und ergreift die Nymphe Chloris. Aus ihrem Mund wachsen Blüten, sie verwandelt sich in Flora, die Göttin der Blüte, geschmückt mit Blumenkranz und besticktem Kleid.
Die Grundlage ist ein antiker Mythos, den Botticelli vermutlich aus Ovids Fasti kannte. Der Westwind Zephyr ergreift die Nymphe Chloris mit Gewalt und gegen ihren Willen. Danach heiratet er sie und schenkt ihr den Rang einer Göttin. Sie wird zu Flora, Göttin der Blumen und des Frühlings.

Diese „Belohnung“ nach einem Gewaltakt spiegelt natürlich das damalige Welt- und Frauenbild wider, in dem die Verfügung des Mannes über die Frau mythologisch verklärt wurde. Die Menschen der Renaissance sahen darin nichts Verwerfliches, sondern nur eine Erklärung, wie der Frühling entsteht. Die „Verwandlung“ galt als Metapher für die Natur, die durch den Anstoß von außen (männlich) fruchtbar (weiblich) wird.

Dass Botticelli die Szene integriert, hängt also mit der Allegorie zusammen:

Zephyr, der ungestüme Impuls der Natur und Chloris, die zur passiven Empfängerin reduziert wird. Aus seiner Wildheit entsteht Flora und mit ihr Blüte, Wachstum, Schönheit. Beide begleitet von den Grazien, Amor, Venus und Merkur.
Zusammen erzählt das Bild die Geschichte des Frühlings. Vom wilden Aufbruch der Natur bis hin zur geordneten Harmonie von Liebe, Fruchtbarkeit und Schönheit. Eine Allegorie, die weit über ein Jahreszeitenbild hinausgeht und den Zyklus des Lebens feiert, auch wenn der Ausgangspunkt in der Mythologie eine gewaltsame Szene ist.

Peter Paul Rubens, Friedensallegorie (ca. 1630–32)

Peter Paul Rubens, Friedensallegorie, Bayrische Staatsgemäldesammlung, Alte Pinakothek, München

Rubens malte seine Friedensallegorie in einer Zeit, in der ganz Europa vom Krieg geprägt war. Der Anlass waren die Friedensverhandlungen zwischen England und Spanien 1629/30, bei denen Rubens selbst als Diplomat beteiligt war. In mehreren Fassungen setzte er das Thema künstlerisch um.

Die rechte Bildhälfte wird vom Krieg dominiert. Dort steht der Kriegsgott Mars in Gestalt eines gepanzerten Mannes mit Schwert, doch er wird von Minerva, der Göttin der Weisheit zurückgedrängt. Im Hintergrund sieht man eine berennende Stadt und am Himmel ziehen die Furien, Verkörperungen des Chaos, davon. Diese Seite des Bildes zeigt die Schrecken des Krieges.

Doch in der Mitte thront Pax, die Gestalt des Friedens. Ihre üppige Körperlichkeit ist nicht nur Rubens’ bevorzugter Malweise geschuldet. Der Körper steht für Fülle, Fruchtbarkeit und Lebensreichtum, seine Nacktheit für Verletzlichkeit im Gegensatz zu der gepanzerten Männlichkeit des Mars.

Um sie herum tummeln sich Kinder, Frauen und ein Satyr, die Früchte und Ähren heranbringen. Auch am Boden liegt eine Fülle von Gaben. Trauben, Kürbisse, Korn, Symbole für Fruchtbarkeit und Überfluss. Dass Pax ein Kind an der Brust nährt, zeigt, Frieden ist nicht abstrakt, sondern konkret nährend. Er schenkt Leben, Wohlstand und Zukunft, im Gegensatz zum Krieg, der zerstört.

Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk (1830)

Eugène Delacroix, Die Freiheit führt das Volk, Louvre, Paris

Delacroix’ Die Freiheit führt das Volk ist wahrscheinlich eine der bekanntesten Allegorie der Neuzeit. Jeder erkennt dieses Bild sofort. Das liegt vermutlich daran, dass kaum ein anderes Gemälde Allegorie und reales Zeitgeschehen so konkret miteinander verbindet. Es wurde zum Sinnbild der Revolution.
Anlass war die Julirevolution von 1830 in Paris, bei der die Bourbonenmonarchie gestürzt wurde.

Im Zentrum steht die Gestalt der Freiheit, eine Frau mit entblößter Brust und wehender Trikolore in der Hand: Marianne. Sie ist die „Republik in Person“. Im 18. Jahrhundert taucht sie zum ersten Mal auf. Ihren Namen erhält sie vermutlich, weil Marianne ein verbreiteter Frauenname war und für „das einfache Volk“ stand.

Meist wird sie als Frau mit Phrygischer Mütze (roter Freiheitsmütze), oft barhäuptig oder mit wehenden Haaren, manchmal barbusig wie in Delacroix’ Bild dargestellt. Mützen ähnlich wie der, die Marianne trägt, erhielten freigelassene Sklaven im alten Rom als Zeichen ihrer neu gewonnenen Freiheit. Ab 1789 wurde die rote Phrygische Mütze zum Symbol für Freiheit, Bürgerrechte und den Bruch mit der Unterdrückung.

In der Kunst werden Personifikationen wie Freiheit oder Wahrheit oft barbusig gezeigt. Sex sells, ja, aber hier ist es nicht erotisch gemeint, sondern als Zeichen für Reinheit, Wahrhaftigkeit oder „nackte Wahrheit“. In Delacroix’ Bild ist die entblößte Brust auch ein Bild für die „Mutter Freiheit“, die ihr Volk hervorbringt.

Gleichzeitig war es 1830 ungewohnt, eine Frau mit nackter Brust in einem politischen Kontext zu zeigen. Eine Frau, idealisiert und real zugleich, die auf die Barrikaden geht und das auch noch mit entblößten Busen – das war durchaus auch als Provokation gemeint.

Um die Freiheit herum kämpfen und sterben ganz unterschiedliche Menschen. Arbeiter mit Hemdsärmeln, Bürger mit Zylinder, selbst Kinder mit Pistolen. Delacroix zeigt damit, dass das Volk in all seiner Vielfalt für die Freiheit aufsteht. Am Boden liegen Tote, Rauch und Barrikaden füllen den Hintergrund.

Delacroix verschmilzt in seinem Werk zwei Ebenen. Die Realität, als einen dokumentarischen Eindruck der Kämpfe in Paris. Und die Allegorie, als überhöhte Gestalt der Freiheit, die barfuß und mit Fahne voranschreitet.

Freiheit ist nicht nur eine abstrakte Idee, sondern eine kämpfende Figur. Sie handelt selbst in der Geschichte und kämpft an der Seite des Volkes. Denn sie ist nicht nur das Ziel. Der Kampf selbst ist ein Akt der Freiheit.

Allegorien heute

War ja klar, dass es dann doch wieder nicht so kurz wird, wenn ich mich erstmal in ein Thema vergrabe. Aber diese Nacht habe ich mir gern um die Ohren geschlagen, denn es hat wirklich Spaß gemacht, mich mit dem Thema Allegorie zu beschäftigen.

Übrigens, Allegorien sind kein Relikt der Vergangenheit. Wir begegnen ihnen auch heute ständig. In der Kunst, ja. Aber auch in Werbung, Politik, Popkultur. Sogar in Memes. Eines der bekanntesten ist bestimmt das  „Distracted Boyfriend“-Meme. Es gibt es in unzähligen Varianten und zu fast jedem Thema, denn die Figuren stehen nicht für sich selbst. Es sind Allegorien.

Die Freundin steht für das Bestehende, Verlässliche, das leicht zu Übersehende, für das, was verloren gehen kann, wenn wir uns nicht darum kümmern. Der Mann steht für Untreue, Ablenkbarkeit, für Störanfälligkeit. Und schließlich die andere Frau. Sie steht für Versuchung, den Reiz des Neuen. Sie ist das shiny object.

Nach Botticelli, Rubens und Delacroix zu einem Internet-Meme. Was für ein Weg! Aber Allegorien sind  kein überholtes Stilmittel vergangener Jahrhunderte. Wir nutzen diese Bildsprache bis heute. Manchmal ganz alltäglich und manchmal hochpolitisch.

 

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About the Author Lea Finke

Lea Finke ist Künstlerin mit ganzer Seele. In ihrem Blog erzählt sie von Inspiration, Leidenschaft und der Begegnung mit Kunst.

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