Kunst liegt im Auge des Betrachters, so heißt es. Aber bedeutet das wirklich, dass Außenstehende darüber urteilen dürfen, was Kunst und wer Künstler ist? Heißt es nicht viel mehr, was immer dich berührt, was immer dich erreicht, kann und darf für dich Kunst sein, ist Kunst?
Mein Verständnis von Kunst muss nicht deines sein und umgekehrt.
Die Frage „Was ist Kunst?“ ist nicht so unschuldig, wie sie scheint. Sie ist politisch, sie ist ökonomisch, kulturell – und psychologisch. Sie zieht Grenzen: zwischen Kunst und Nicht-Kunst, wertvoll und (vermeintlich) wertlos, förderwürdig und belanglos. Warum wird sie immer wieder gestellt? Wer hat ein Interesse daran, Kunst zu definieren?
Wer definiert Kunst
Ich werde immer wieder gefragt, ob man von meinem Beruf überhaupt leben könne - die alte Mär von der brotlosen Kunst. Hat sich schon mal jemand gefragt, ob Verleger:innen von ihrem Beruf leben können? Oder Musikproduzent:innen, Agent:innen oder Galerist:innen?
Klar, sich aus dem Nichts ein eigenes Business aufzubauen, ist niemals leicht, in keiner Branche. Und dass Kunst als Beruf nicht ernst genommen wird, macht es nicht gerade leichter. Aber schauen wir doch mal genauer:
Der Verkauf von Zeichnungen, Gemälden, Skulpturen und Objekten auf dem weltweiten Kunstmarkt erzielte 2024 57,5 Milliarden US-Dollar (Art Basel/UBS Art Market Report). Und das sind nur die Umsätze von Auktionshäusern, Galerien, Kunstmessen und Kunsthändler:innen. Atelierverkäufe, Digital Art, NFTs, Antiquitäten etc. sind da noch gar nicht mit drin (geschätzte 552 Mrd. USD) – geschweige denn Musik, Bücher, Theater, Film, Performance usw.
Die Kreativwirtschaft insgesamt gehört weltweit zu den größten Wachstumsbranchen. Die UNESCO schätzt den gesamten Kreativ- und Kultursektor auf ca. 4,3 Billionen USD – das sind rund 6,1 % der globalen Wirtschaftsleistung. In vielen Ländern übertrifft sie sogar einzelne Sektoren wie Landwirtschaft oder Gastgewerbe - deutlich.
Genug mit den Zahlen. Klar wird, die Frage ist nicht, ob mit Kunst Geld verdient werden kann, sondern wer es verdient.
Zweitverwerter:innen können nämlich durchaus von Kunst leben. Oft sogar sehr gut. Damit das so bleibt, muss die Definition von Kunst vage sein, um Spielraum zu lassen – aber auch konkret genug, um auszusortieren. Sie muss erklärungsbedürftig bleiben. Denn wenn Käufer selbst entscheiden können, was Kunst ist, brauchen sie keinen Vermittler.
Vincent van Gogh
„Ich kenne keine bessere Definition für das Wort Kunst als diese: Kunst – das ist der Mensch“.
Wem gehört Kunst?
Kunst ist mir wichtig. Als Künstlerin und als jemand, die sich von Kunst berühren lässt. Kunst hat mich getröstet, inspiriert, zum Nachdenken gebracht und in vielerlei Hinsicht gerettet. Sie hat in meinem Leben eine besondere Rolle und ich bin der Meinung, dass sie die auch in der Gesellschaft hat. Aber ein Podest braucht sie nicht.
Es ist nicht nötig, Kunst die Aura des Undefinierbaren, des Unerreichbaren zu geben. Sie ist mehr als das, was in Museen hängt, mehr als das Bestaunen von Fertigkeiten, die man selbst nicht besitzt. Museen sollten keine Gatekeeper sein, sondern Orte, die große Kunstwerke für alle zugänglich machen.
Kunst sollte nahbar sein, spürbar – nicht definierbar.
Ist es nicht ironisch, dass die juristische Definition von Kunst „Kunst ist eine freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur unmittelbaren Anschauung gebracht werden.“ (BVerfGE 67, 213) vor allem die Vielgestaltigkeit von Kunst und den Schutz der Kunstfreiheit im Sinn hat, während die (institutionalisierte) Kunstwelt versucht, die Rahmen enger zu ziehen?
Helena Bonham Carter
„Ich finde, alles im Leben ist Kunst. Was du tust. Wie du dich kleidest. Wie du jemanden liebst und wie du sprichst. Dein Lächeln und deine Persönlichkeit. Was du glaubst – und all deine Träume. Wie du deinen Tee trinkst. Wie du dein Zuhause gestaltest. Oder eine Party. Deine Einkaufsliste. Das Essen, das du kochst. Deine Handschrift. Und wie du dich fühlst.
Das Leben ist Kunst.“
Kleine Geschichte des Kunstbegriffs: Von der Tempelwand zur TikTok-Kunst
Alte Höhlenmalereien belegen, Menschen haben schon seit jeher Kunst geschaffen. Die Felsenmalereien in der Höhle von Lascaux in Frankreich zum Beispiel stammen aus der Zeit des Magdalénien, einer Phase der späten Altsteinzeit (Paläolithikum) und werden auf ein Alter von etwa 17.000 bis 20.000 Jahren geschätzt.
Die Malereien in der Höhle von Altamira in Spanien sind noch älter – und vielfältiger. Über Jahrtausende hinweg haben Menschen sie ergänzt und weitergeführt. Die ältesten Abschnitte (z.B. die roten Handabdrücke) sind mindestens 36.000 Jahre alt, die jüngsten 14.000 - 18.000 Jahre.
Viele dieser Malereien zeigen eine erstaunliche Beobachtungsgabe, Rhythmus und Symbolkraft. Zu Recht gelten sie heute als Kunst. Doch die Menschen damals hatten vermutlich keinen eigenen Begriff dafür. Ihre Malereien, Schnitzereien oder Tonfiguren waren Teil von Ritualen, Kommunikation, Magie, Identität, nicht getrennt von Funktion oder Leben. Kunst war Tun, nicht Theorie.
Der erste Kunstbegriff im Sinne eines reflektierten Verständnisses davon, was Kunst ist, entstand erst in der Antike. Er lautete Technē und bedeutete so viel wie Können, Handwerk, Fertigkeit.
Er umfasste alle Formen schöpferischer Tätigkeit, also Malerei und Dichtung genauso wie Rhetorik, Medizin, Schiffsbau, Töpferkunst, Architektur oder sogar Staatskunst. Es gab noch keine Hierarchie zwischen „höherer“ und „niederer“ Kunst. Der Gedanke, dass Kunst ein eigenes Feld mit eigener „Wahrheit“ sei, kam später.
Georgia O’Keeffe
„Ich stellte fest, dass ich mit Farben und Formen Dinge ausdrücken kann, für die ich keine Worte hatte – Dinge, die sich auf keine andere Weise sagen ließen.“
Auch wenn der Begriff bei frühen Denkern wie Heraklit oder Pythagoras nicht immer wörtlich belegt ist, prägte ihre Vorstellung von Maß, Fertigkeit und Weltverständnis die spätere Auseinandersetzung mit dem, was wir heute Kunst nennen. Philosophisch entfaltet wurde der Begriff aber vor allem von den Sophisten und später von Platon und Aristoteles:
Platon stand der Kunst sehr kritisch gegenüber. In seinem Werk Politeia (Der Staat) vertritt er die Idee, dass Kunst nur eine Nachahmung der Wirklichkeit sei und damit zweimal entfernt von der Wahrheit - einmal, da die Wirklichkeit ein Abbild der Idee sei, zum zweiten eben deren Abbild. Platon glaubte, Kunst verführe die Seele, weil sie Emotionen anspricht und nicht den Verstand.
Aristoteles, Platons Schüler, sah das deutlich anders. Für ihn war Kunst eine Form der Erkenntnis, besonders im Hinblick auf die Dichtung und das Drama. Für ihn ahmte Kunst nicht einfach nach, sondern verdichtete und interpretierte die Wirklichkeit. Aristoteles sah in der Kunst eine Funktion im Erkenntnisprozess des Menschen, einen sinnvollen Bestandteil menschlicher Erfahrung – nicht Wahrheit im platonischen Sinne, aber Wahrhaftigkeit im emotionalen Sinn.
Im Mittelalter hatte Kunst vor allem eine kommunikative und erzählende Funktion. Die Mehrheit der Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben. Kirchenfenster, Fresken oder Skulpturen wurden auch „Biblia pauperum“ genannt – die Bibel der Armen. Durch sie wurden Geschichten sichtbar. Kunst war Lehrerin, Trösterin, Mahnerin – und ein Instrument der Macht.
Denn im Mittelalter stand die Kunst fest im Dienst der Religion. Sie visualisierte Ordnung, Hierarchie, Sünde und Erlösung, immer im Sinne der offiziellen Lehre. Es ging nicht darum, Fragen zu stellen, sondern Antworten zu bebildern. Statt Technē hieß es nun ars (lateinisch für „Kunst“), gemeint war aber noch immer technisches oder regelgeleitetes Können.
Unterschieden wurde zwischen den artes mechanicae – den „mechanischen Künsten“, zu denen handwerklich-praktische Tätigkeiten gehörten und den artes liberales, den „freien Künsten“. Diese galten als geistig höherstehend und umfassten das Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und das Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie). Die bildende Kunst, Malerei oder Bildhauerei, galt als dienendes Handwerk – und stand klar unter den „freien“ Künsten.
Honoré de Balzac
„Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, die Natur zu kopieren, sondern sie auszudrücken“!
Mit der Renaissance verschob sich der Fokus. Es begann etwas, das wir rückblickend als den Beginn des modernen Kunstbegriffs verstehen. Kunst, nicht länger nur als handwerkliche Fertigkeit im Dienst der Kirche oder der Mächtigen – sondern etwas, das für sich selbst steht. Künstler wurden Individuen, mit Handschrift, mit Vision. Das „Genie“ trat auf die Bühne. Namen wie Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Albrecht Dürer standen nicht mehr nur für Können.
Zwar musste auch die Kunst der Renaissance bestimmte Erwartungen erfüllen – Schönheitsideale, Harmonie, religiöse oder politische Botschaften, aber sie begann, sich von ihrer dienenden Funktion zu lösen und einen Eigenwert zu beanspruchen. Dafür sind vor allem zwei Dinge verantwortlich: Die Rückbesinnung auf die Antike und die humanistische Denkweise auf der einen Seite, bei der nicht länger Gott, sondern der Mensch im Mittelpunkt stand. Andererseits die Entdeckung der Zentralperspektive.
Diese führte nämlich dazu, dass die Gemälde realistischer wurden. Die Vorläufer gingen so weit in ihrer Idealisierung der Abgebildeten (Päpste, Apostel, Könige), dass sie alle gleich aussahen und reale Figuren nicht mehr erkennbar dargestellt wurden. Jetzt aber stimmten die Proportionen, die Tiefe des Raums, und die Abgebildeten in diesem Raum waren erkennbar, echte Menschen. Die Betrachtenden konnten sich selbst in ihnen erkennen, nachfühlen. Man sah die Welt anders und zeigte das auch. Kunst wurde nicht mehr nur ausgeführt, sie wurde gedacht.
Und zum ersten Mal wurde der Name eines Malers wichtig. Zwar finden sich bereits im Mittelalter vereinzelt Signaturen, doch sie hatten wenig mit einem künstlerischen Selbstverständnis zu tun. Sie waren eher bescheiden formulierte Namensnennungen im Sinne von „Wer dieses Werk sieht, möge für mich beten“. Erst in der Renaissance wird die Signatur zum Ausdruck individueller Autorenschaft.
Paul Auster
„Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden.“
In den nächsten zwei- bis dreihundert Jahren ändert sich nicht viel am Kunstbegriff. Die Stilrichtungen ändern sich: Auf die Renaissance folgt Barock, später Rokoko, Klassizismus, Romantik usw., aber das Verständnis dessen, was Kunst ist, bleibt sehr akademisch - und männlich, nebenbei erwähnt.
Erst in der Moderne folgt die nächste Zäsur. Mit der Erfindung der Fotografie brauchte es keine Malerei mehr, um die Wirklichkeit abzubilden. Ohne eine feste Funktion wird Kunst freier, experimenteller, wilder, manchmal radikaler. Abstraktion, Konzeptkunst, Dada: Plötzlich geht es um Brüche, um das Infragestellen, um Innenwelten. Kunst wird zu etwas, das nicht nur sichtbar, sondern auch spürbar sein will.
Heute scheint alles möglich. Digitale Formate, TikTok-Performances, Alltagsobjekte auf Sockeln – der Kunstbegriff ist so offen wie nie. Alles kann Kunst sein. Vielleicht ist gerade deswegen das Bedürfnis nach einer eindeutigen Definition größer als je. Was gibt Orientierung?
Zurückblickend scheint es, als bildeten die unterschiedlichen Blickwinkel von Platon und Aristoteles auf Kunst eine Art archaisches Grundmuster, das sich mehr oder weniger bis heute durchzieht. Die Frage „Was ist Kunst?“ lässt sich auf der sachlichen Ebene beurteilen, mit dem Fokus auf Technik, Können, Tradition und der Nachweisbarkeit durch eine akademische Ausbildung, oder auf der emotionalen Ebene, die fragt: "Was macht das mit mir?"
Keith Haring
„Kunst sollte etwas sein, das die Seele befreit, die Vorstellungskraft anregt und Menschen ermutigt, weiterzugehen.“
Was ist Kunst – für mich?
Mir ist bewusst, dass dieser Text stark von der europäischen Kunstgeschichte geprägt ist. In anderen Kulturen entwickelten sich ganz eigene Formen, Bedeutungen und Funktionen von Kunst – oft tief verwoben mit Religion, Alltag und Identität.
Und auch jenseits von geografischen Grenzen ist Kunst immer eine Frage der Perspektive. Der Kunstbegriff kann sich mit der Zeit und von Mensch zu Mensch verändern. Was ist Kunst? Diese Frage verdient etwas Besseres als eine Antwort mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit. Die Frage ist zutiefst persönlich. Fast intim.
Für mich ist Kunst Ausdruck, Hingabe, Austausch und Begegnung - mit anderen und mir selbst. Ich sehe Kunst gern in Museen oder als Street-Art an Mauern. Kunst ist überall. Man muss nur hinsehen. Und natürlich geht es weit über die Malerei hinaus. Selbst die, die behaupten, Kunst berühre sie nicht, hat das ein oder andere Musikstück schon zum Weinen gebracht - oder zum Tanzen.
Selbst Kunst zu machen, macht mich glücklich. Meine Seele kommt zur Ruhe, wenn ich male. Es ist, als würde etwas in mir einrasten, das verschoben war.
Phylicia Rashad
„Bevor Kinder sprechen, singen sie. Bevor sie schreiben, malen sie. Sobald sie stehen, tanzen sie. Kunst ist die Grundlage des menschlichen Ausdrucks.“
Jeder kann Kunst machen
Wer sich heute im Internet bewegt, könnte meinen: Plötzlich macht jeder Kunst. Jeder malt, macht Musik oder schreibt Texte. Gut so!
Kunst war nie nur den Akademien oder Galerien vorbehalten. Sie zu machen, ist keine Anmaßung, sondern ein Bedürfnis. Ein Weg, mit der Welt in Beziehung zu treten. Sich selbst zu begegnen.
Ob dabei ein Meisterwerk entsteht oder ein verschmierter Aquarellversuch, spielt das eine Rolle? Es geht doch nicht um Perfektion. Wer malt, tanzt, schreibt oder baut, spürt sich. Unsere Welt wird besser, wenn mehr Kunst in ihr ist.
Vielleicht hätte ich diesen Text nie geschrieben, hätte mich die Blogparade von Dana nicht dazu eingeladen, mal laut darüber nachzudenken. Danke für diesen kleinen Schubs in die richtige Richtung.
Zum Schluss eine Frage – ganz persönlich: Was ist Kunst für dich?
Liebe Lea,
ich freu mich total, dass du den Impuls aus der Blogparade aufgenommen hast – und dann so einen starken Text daraus gemacht hast! So viel Wissen, so viele kluge Gedanken – und trotzdem klar und schnörkellos geschrieben. Ich fand’s richtig spannend, wie du die Entwicklung des Kunstbegriffs mit gesellschaftlichen Zuschreibungen verknüpfst und dabei trotzdem nah an der Praxis bleibst.
Einfach richtig gut – danke fürs Mitmachen!
Herzliche Grüße
Dana
Liebe Dana,
danke dir für deine lieben Worte – ich hab mich wirklich sehr darüber gefreut!
Dein Aufruf hat Raum gelassen – für Tiefe, für Haltung, für Zweifel. Darum konnten so viele unterschiedlicheTextee entstehen. Danke dir fürs Anstoßen!
Liebe Grüße
Lea